August 5, 2023

Die Kantorei

Wer einen Blick in das rechte Schaufenster des Geschäftshauses Borcherding an der Kochstraße wirft, ahnt nicht, dass an dieser Stelle noch im frühen 19. Jahrhundert neben dem alten Schulgebäude die Kantorei gestanden hat. Der Begriff Kantor bezeichnet eine Person, die im Gottesdienst eine Rolle als Vorsänger einnahm und sich für die Kirchenmusik verantwortlich zeigte. Im Flecken Lemförde war das Amt des Kantors in früheren Zeiten mit dem Amt des örtlichen Lehrers verbunden, sodass auch das Begleiten der Toten zu ihrer letzten Ruhestätte mit dem Gesang der Schulkinder in seinen Aufgabenbereich fiel.

Geschäftshaus Borcherding (Foto: Volker Harting)

Zu Beginn des 18. Jahrhundert befand sich zwischen dem Schul- und Rathaus Nr. 30 und dem Haus Nr. 32, in dem Salomon Adam Vietor ein Kaufmannsgeschäft mit Apotheke führte, die kleine Ackerbürgerstelle Nr. 31 der Familie Massmann. Als der Haushaltsvorstand Gerd Henrich Massman am 17. Februar 1712 mit Hinterlassung von Frau und Kindern verstorben war, heiratete seine Ehefrau im Witwenstand in zweiter Ehe Bertram Edeler aus Delmenhorst. Bevor dieser zu ihr ziehen konnte, legte er am 2. Dezember 1712 den Bürgereid ab und zahlte ein Bürgergeld in Höhe von 9 Thalern. Das Wohnhaus, in dem er eine Bäckerei betrieb, war mit Schulden belastet. Das Bäckerhandwerk warf jedoch so viel Geld ab, dass es ihm 1716 bereits gelang, die Schulden zu tilgen. Doch dann ereilte der Familie ein Schicksalsschlag: 1724 brannte ihr Anwesen nieder. Eine Feuerversicherung gab es zu dieser Zeit noch nicht, daher musste Bertram das Geld für ein neues Haus aus dem eigenen Geldbeutel und durch Kreditaufnahme aufbringen. Es reichte nur zu einem "ganz kleinen" Ackerbürgerhäuschen.

Nach dem Tode seiner Ehefrau vermählte er sich mit Anna Alheit Koop, der Witwe des Vollmeiers Gerd Herman Bomeling in Marl Nr. 5, die ihren Hof in Marl verließ und am 19. April 1738 gegen Zahlung von 6 Thalern das Lemförder Bürgerrecht erwarb. Mitte des 18. Jahrhundert lebten mit ihnen im Hause noch die Tochter Sophia Elisabeth aus seiner ersten und sein 1739 geborener Sohn Christian Friederich aus seiner zweiten Ehe. Anerbin war somit seine Tochter, die er 1754 mit Carl Georg Friedrich Hemerling vermählte, dem 1730 geborenen Sohn des Predigers Jobst Andreas Hemerling zu Lachem und der Leveke Juliana Ziehen, für den er am 19. November 1754 das Bürgergeld in Höhe von 6 Thalern entrichtete. Dieser führte die Bäckerei seines Schwiegervaters fort.

Der Schul- und Kantordienst lag seit seinem Amtsantritt im Jahre 1753 – zunächst noch als Adjunkt des alten Lehrers Cruse – in den Händen von Christian Wilhelm Jungeblut, der sich 1759 mit der Witwe Helene Charlotte Ütrecht, geb. Meyer, vermählt hatte, die neben dem Verkauf von Manufaktur- und Kolonialwaren eine Gastwirtschaft betrieb. Jungeblut zog zu ihr. Die Arbeit als Schenkwirt im Nebenerwerb im Geschäft seiner Ehefrau gefielt ihm weitaus besser als der Schul- und Kantordienst, den er stark vernachlässigte. Sein kostspieliger Lebensstil und unlautere Geldgeschäfte trieben ihn in den Konkurs.

1773 suchte der Magistrat des Flecken Lemförde nach einer Wohnung für ihn, da im Schulgebäude wegen der steigenden Zahl der Schulkinder kein Platz vorhanden war. Was lag da günstiger als das angrenzende Hemelingsche Wohnhaus Nr. 31 am Kirchhof, zu dessen Ankauf am 27. Dezember 1773 ein Vertrag mit Carl Hemerling ausgehandelt wurde, der nach der landesherrlichen Genehmigung vom 28. Juli 1774 umgesetzt wurde. Der Kaufpreis betrug 525 Reichstaler.

Mülleimer 29. September 1774 bezog der Schulmeister und Kantor Christian Wilhelm Jungeblut die Kantorei. Im selben Jahre wurde Justus Heinrich Cassel als Unterlehrer eingestellt. Er folgte nach dem im August 1777 erfolgten Tode Jungebluts im Am und bewohnte die Kantorei noch im Jahre 1818, als das alte Schulgebäude die Zahl der Schülerinnen und Schüler kaum noch aufnehmen konnte.

Bauplan des 1818 errichteten Schul-, Kantor- und Rathauses

Da die beiden bisherigen Gebäude, das Schul- und Rathaus und die Kantorei so verfallen waren, dass sie nicht mehr genutzt werden konnten, beschlossen der Flecken Lemförde und die Gemeinde Quernheim als Schulträger, die alten Gebäude abzureißen und auf dem freiwerdenden Platz ein neues Gebäude zu errichten, das das Rathaus, die Schule und eine Wohnung für den Lehrer aufnehmen sollte. Der Kostenvoranschlag belief sich auf 3.600 Reichstaler. Wegen der Kosten für das Rathaus verglichen sich die beiden Kommunen dahin, dass die Dorfschaft Quernheim den Betrag von 400 Reichsthalern und ein Sechstel der Hand- und Spanndienste übernahmen.