Juni 30, 2023

Die Maßschneiderei Wiechmann an der Bahnhofstraße

Maßschneiderinnen und -schneider findet man heute im Flecken Lemförde nicht mehr, allenfalls noch Änderungsschneiderinnen in Kombination mit Bekleidungsgeschäften. Dabei hat der Handwerksberuf des Schneiders eine lange Tradition. Noch im 12. Jahrhundert wurde die Kleidung innerhalb der Familie gefertigt. Federführend war die Dame des Hauses. Die Kleidung war einfach und zweckmäßig.

Mit der Einführung einer neuen Mode in den Adelshäusern, bei der die Kleidungsstücke an die Körperform angepasst wurden, entstand im 13. Jahrhundert das Schneiderhandwerk. Es folgte sehr schnell eine Entstehung von Handwerksbetrieben. Gleichzeitig kamen durch die Zünfte Regeln und Gebote für die Schneider zum Tragen.

Im Königreich Hannover waren Im Flecken Lemförde im 18./19. Jahrhundert die Schneider in einer Gilde organisiert. Sie war eine Vereinigung, die die Regeln für den Handwerksberuf des Schneiders aufstellte, überwachte und gemeinsame Interessen vertrat. Zu den Regeln gehörten unter anderem: Ausbildungsdauer, Arbeitszeit, Anzahl der Lehrlinge und Gesellen, Qualität des hergestellten Produktes und Festsetzung des Preises. Für die Schneider in den Dörfern bestand kein Zunftzwang. Sie wurden geduldet, durften jedoch nicht für die Bewohner des Flecken Lemförde arbeiten.

Das Schneiderhandwerk war ein Lehrberuf. Lehr- und Gesellenjahre dauerten insgesamt vier bis sechs Jahre, bevor das Meisterstück abgelegt werden konnte. Die Meisterprüfung war wichtig, denn nur ein Schneidermeister durfte Stoffe zuschneiden. Stoffe waren ein wertvolles Gut. Sie herzustellen war, bevor es mechanische Webstühle gab, ein mühsames Geschäft. Das Handeln mit Stoffen oder die Bevorratung von Stoffen war dem Schneider verboten. Er verarbeitete die Stoffe, die die Kundschaft brachte oder die er beim Tuchhändler kaufte.

Die Zeit des Zunftzwangs der Gilde endete mit der Einführung der Gewerbefreiheit Mitte des 19. Jahrhunderts. Nachfolgeorganisation wurde nach der Annexion des Königreichs Hannover durch Preußen die Innung. Ein Wandel des Schneiderberufs setzte ein. Durch das Aufkommen des Verlagssystems mit Konfektionsware gerieten die selbständigen Schneidermeister immer mehr in Abhängigkeit von kapitalkräftigen Händlern und Fabrikanten. Gedruckte Schnittmuster und die Einführung der Nähmaschine um 1860 machten es möglich, dass die Schneiderei von weitgehend ungelernten Personen durchgeführt werden konnte.

Dies war die allgemeine Situation der Schneiderei, als 1883 Christian Friederich Gottlieb Wiechmann, kurz "Fritz" genannt, nach Lemförde kam. Geboren wurde er am 15. Februar 1862 als fünftes Kind des Heuerlings Hermann Friedrich Wilhelm Wiechmann und der Anna Maria Elisabeth, geb. Ekeler, in Levern. 1887 heiratete er Sophie Louise Anna Heuer aus Stemshorn, mit der er 1912 die Silberhochzeit feierte. Ein gerahmter Ehrenkranz des Kriegervereins Lemförde zu ihrem Festtag zierte danach die Wand des Wohnzimmers.

"Fritz" Wiechmann im Kreise der Familie

Fritz trat zunächst als Geselle in die Schneiderei Glahn in der Eselstraße ein, in der Schneidermeister Heinrich Glahn in 3. Generation Anzüge, Kostüme, Tailor, Jacketts, Blazer und Mäntel anfertigte. Sein jährliches Einkommen als einziger Geselle betrug lt. Klassensteuerregister jählich 360 Mark, wovon 180 Mark auf den Arbeitslohn entfielen und die anderen 180 Mark auf Kost und Logis. 1886 machte er sich als Schneidermeister selbständig, mietete das Wohnhaus Nr. 114 an der Ecke Bahnhofstraße/Hauptstraße des Unternehmers Neddermann in Straßburg an und eröffnete eine Maßschneiderei für Damen und Herren.

Der Hauptunterschied zwischen den Geschlechtern bestand darin, dass in der Herrenschneiderei Schnittsysteme zur Anwendung kamen, die eine genaue Passform und einen korrekten Sitz ergaben, während die Damenschneiderei eher "modellierte" Kleidungsstücke bevorzugte, die mit Falten, Weiten und Stoffzügen arbeiteten, um bevorzugt "schöne" Effekte zu erzielen.

Das Handwerkszeug erforderte keine großen Investitionen: Nadel, Faden, Schere und Bügeleisen waren nicht teuer, kostspieliger war da schon die Anschaffung einer Nähmaschine. Dauerte das Zuschneiden und Nähen eines Kleidungsstücks von Hand früher zwei bis drei Tage oder auch mehr, wenn es sehr aufwendig war, verkürzte der Einsatz der Nähmaschine diese Zeit erheblich.

War ein Anzug zu fertigen, wurden zunächst die Maße des Kunden genommen, anhand derer das Zuschneidemuster entworfen wurde. Diverse Winkel, Schneiderkreide und Packpapier, das zuvor sorgfältig gebügelt worden war, kamen dabei zum Einsatz. Die Maße wurden auf das Papier übertragen, das Muster ausgeschnitten bzw. ausgerädelt, auf den Stoff aufgezeichnet und mit der Zuschneideschere ausgeschnitten. Dann erst begann das Nähen. Die Arbeiten waren aufwändig und erforderten ein hohes Maß an Genauigkeit.

Gearbeitet wurde meistens im Schneidersitz

Ein großer Teil der Arbeit fand im Schneidersitz statt, bei dem beide Füße unter die Oberschenkel geschoben wurden. Fritz saß aus verschiedenen Gründen auf dem Tisch. Die Stoffteile sollten nicht auf den Fußboden hängen und auch die abgeschnittenen Stoffreste sollten nicht in den Staub fallen. Auch erleichterte diese Sitzhaltung die Arbeit mit schweren Stoffen. Und nicht zuletzt erwies sie sich als sehr gesund, da das Becken und die Wirbelsäule eine geradere Haltung einnahmen.

Wilhelm und Henriette Wilhelmine Wiechmann

Noch 1936 war Fritz Wiechmann in seinem Handwerk tätig. Anlässlich seines 50. Berufsjubiläums wurde ihm in diesem Jahre der Ehrenmeisterbrief verliehen. Die Leitung des Betriebs lag zu diesem Zeitpunkt bereits in den Händen seines 1892 geborenen Sohnes Wilhelm, der 1925 die Meisterprüfung abgelegt hatte. 1920 hatte er sich mit Henriette Wilhelmine, der 1894 geborenen Tochter des Oppenweher Schneidermeisters Heinrich Friedrich Brockschmidt verehelicht.

Maßschneiderei Wiechmann Nr. 114

Das große Geld war mit der Schneiderei nicht zu verdienen. Das arme Schneiderlein, das wir aus dem Märchen kennen, war auch im Alltag der Familie Wiechmann bisweilen bittere Realität. Dennoch hatte Wilhelm ein so gutes Auskommen, dass der Schneiderberuf ihn und seine Familie ernährte und es ihm 1932 gelang, das Wohnhaus Nr. 114 an der Bahnhofstraße vom Dipl. Ing. Rudolf Schröder in Bochum anzukaufen. 1934 erweiterte er es durch einen Anbau, da es im Haus an Schlafräumen für die fünfköpfige Familie fehlte. Im westlichen Teil des alten Gebäudes zur Bahnhofstraße hin richtete er eine ca. 14 qm große Schneiderwerkstatt ein. Wilhelm Wiechmann zählte zu den respektierten Einwohnern des Ortes und war stolz, als er beim Lemförder Schützenfest 1953 zusammen mit seiner Ehefrau den Königsthron besteigen durfte.

Wilhelm und Henriette Wilhelmine Wiechmann auf dem Lemförder Schützenfest 1953

Von seinem Vater Wilhelm übernahm in 3. Generation Helmut Wiechmann (* 1925) die Schneiderei, die sich nach dem 2. Weltkrieg auf rasant verändernde Rahmenbedingungen einstellen musste. Die textilverarbeitende Industrie eroberte den Markt und drängte die Maßanfertigung mehr und mehr zurück. Übrig blieben Änderungs- und Reparaturarbeiten, von denen es sich immer schlechter leben ließ. Die Maßschneiderei Wiechmann wurde aufgegeben.

Haus Wiechmann nach der Aufstockung

2001 wurde das Wiechmannsche Haus an das Kinderheim Lemförde veräußert. Zurück blieben die Nähmaschinen, die Meisterbriefe und mit Zahlen und Notizen beschriftete Papierbögen und Schnittmuster, die bei der Aufstockung des Hauses auf dem Dachboden zum Vorschein kamen.