Juni 30, 2023

Die Lemförder Synagoge und der 10. November 1938

Für jede jüdische Gemeinde war und ist die Synagoge ein Mittelpunkt des Gemeindelebens. Neben ihrer rituellen Bedeutung war sie für jede Gemeinde darüber hinaus ein Symbol ihrer Selbständigkeit und Unabhängigkeit, ein Zeichen, dass sie Teil der regionalen deutschen Gesellschaft sein wollten. Aufgrund der Bedeutung einer Synagoge für das jüdische Selbstverständnis wundert es daher nicht, dass die Lemförder Juden die Errichtung einer eigenen Synagoge herbeisehnten.

Bis ins 19. Jahrhundert feierte die Gemeinde ihre Gottesdienste in privaten Räumen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts suchte man nach einem eigenen Synagogengebäude und kaufte 1817 das Haus des Bürgers Kämper mit Hofplatz an der Hauptstraße unter der Bedingung, kein Wohnhaus daraus zu machen. Auch wenn die jüdische Gemeinde es von einem nichtjüdischen Einwohner erwarb, legt die Bausubstanz nahe, dass dieser den Bau in deren Auftrag als Synagoge, Schul- und Wohnhaus errichtet hatte.

Die Lemförder Synagoge ist ein frühes Beispiel eines jüdischen Bethauses an einer Hauptdurchgangsstraße, denn bis weit ins 19. Jahrhundert wurden Synagogen meist so gebaut, dass sie nicht im Straßenbild sichtbar waren. Das rechteckige Haus mit Satteldach war zunächst nur aus Fachwerk konstruiert. Vom Haupteingang auf der Westseite führte ein Flur zum Vorbereich des Betsaals, links lag die Treppe zur Frauenempore. Wahrscheinlich rundbogige Fenster gaben dem Innenraum Licht. Den Saal überdeckte ein Tonnengewölbe, das im Dachgeschoss noch sichtbar ist. Auf der Ostseite des Saals befand sich der Toraschrein. Vor ihm standen das "Ewige Licht" und das Lesepult, auf dem die Tora-Rollen zur Lesung ausgerollt wurden.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde die Synagoge nach Westen verlängert und mit einer Ziegelfassade versehen. Die Synagoge erhielt damit ein für jene Zeit in der Region typisches Fassadenbild, das versuchte, dem Fachwerkbau einen repräsentativeren Charakter zu verleihen.

"Der Juden Schule", so nannte Martin Luther sie nach mittelalterlichem Brauch in seinen Schriften. Dies traf auf die Lemförder Synagoge in besonderem Maße zu, denn sie beherbergte sowohl einen Raum für den Gottesdienst als auch das Schulzimmer für die israelitische Jugend der Synagogengemeinde.

Auf dem Grundstück befand sich in der nordöstlichen Ecke das Ritualbad (hebräisch: Mikwe) der Gemeinde, das nicht erhalten ist.

Am 10. November 1938, dem Tag nach der Pogromnacht, wurde die Synagoge Ziel eines nationalsozialistischen Anschlags, der sich als Schandmal in die Geschichte des Flecken Lemförde eingebrannt hat, als aus bösen Gedanken hasserfüllte Worte und Worte des Hasses zu schrecklichen Taten führten. Beteiligt waren nicht nur Organisationen und Gliederungen der NSDAP, sondern auch Schulklassen, "einfache" Nachbarn, Männer und Frauen. Sie wurden Zeuge, wie die Menschenrechte und die Menschenwürde mit Füßen getreten wurden. Einige haben gejubelt und gejohlt, andere haben schweigend oder gleichgültig hingenommen, was geschah. Die Lemförder Juden, wenige Zeit zuvor noch Nachbarn und Freunde, wurden an diesem Tage allein gelassen.

Ich bin mir bewusst, dass heute, nach 84 Jahren, weitere Zeitzeugen, die bereit sind, über diesen Tag nach der Reichsprogromnacht, die auch als "Reichskristallnacht" in die Geschichte eingegangen ist, zu sprechen, wohl nicht mehr zu Wort kommen und mit ihren Beiträgen bestehende Lücken füllen können. Eine Bestätigung der Schilderungen der Familie Kuhlmann und ein wenig Licht ins Dunkle bringt jedoch eine schriftliche Dokumentation der Ereignisse, die vor einigen Jahren ans Tageslicht kam. Sie wurde maschinenschriftlich am 29. Juli 1946 – vermutlich im Rahmen der Entnazifizierungsverfahren – von Wilhelm Köster verfasst, der an der Hauptstraße neben der Synagoge ein Textilhaushaus führte. Die Namen beteiligter Personen habe ich im folgenden Bericht, den ich mit kleineren orthografischen Korrekturen im Wortlaut wiedergebe, durch das Kürzel NN ersetzt.

Am Morgen des Tages, als in Lemförde die Synagoge zerstört wurde, stand ich mit meinem Lehrmädchen NN, die später bei der Muna zu Tode kam, in meinem Laden. Wir hörten plötzlich Marschtritte. Ich fragte erstaunt: "Was ist da am frühen Morgen wieder los?", und sahen dann durch das Fenster meines Ladens nach Süden die SA marschieren kommen. Ich sagte: "Wo wollen die nun wohl wieder hin?" Da mein Lehrmädchen und ich beide Gegner der SA wie der Partei waren, schenkten wir beide diesem Vorgang weiter keine Beachtung und machten unsere Arbeit weiter.

Wir hörten beide kurz darauf das Kommando "Halt!" und kurz darauf ein Klopfen und Schlagen, gingen beide an die Ladentür um zu sehen, was dort vorging. Wir sahen dann, dass eine Leiter vor der Synagoge aufgestellt war und einer mit dem Meißel den Spruch "Mein Haus ist ein Bethaus für alle Völker" herausschlug. Wir sahen ferner zwei Männer als Posten gegenüber der Synagoge aufgestellt und die SA, die zusammengeschlagene Bretter und andere Gegenstände heraustrug.

Diesen Vorgang sahen wir uns eine Weile an und gingen danach wieder in den Laden zurück und machten unsere Arbeit weiter. Kurz darauf wurde es aber immer lauter, wir hörten Rufen und hartes Schlagen. Ich ging darauf durch mein Haus und stellte mich an die Nordseite meines Hauses gegenüber der Synagoge, von wo aus ich den ganzen Vorgang beobachten konnte. Ich sah, wie drinnen vor der Küche einer auf der Leiter stand und wie die Fr. NN versuchte aus der Küche zu kommen, und hörte den Ruf: "Kummst herrut, slag ich di mit de Äxt vor den Kopp!" Ich schüttelte wiederholt auf die Vorgänge den Kopf.

Es kam dann der Kaufmann NN (Kolonialwarenhändler), der vor der Synagoge stand, zu mir und sagte: "So möt se heppen, de, düsse verdammten Juden." Ich stellte mich darauf vor ihm hin und sagte etwa folgendes: "Bist du auch noch so verbohrt oder verrückt, das Haus haben deutsche Handwerker erbaut, deutsche Maurer, deutsche Zimmerleute, deutsche Tischler und Arbeiter haben daran gearbeitet, kein Jude hat einen Finger krumm dabei gemacht. Wann ihr die Juden nicht drin wohnen lassen wollt, dann setzt doch Deutsche hinein. Warum braucht ihr das kaputt zu schlagen, sinnlos zu zerstören, wo Wohnungsnot besteht, manche froh um solche Wohnungen wären?" Darauf antwortete NN: "Wir wissen schon lange, dass du Anti bist, dass du schon schlechter Hund bist." Ich habe darauf noch [etwas] entgegnet, dieses ist mir aber nicht mehr in Erinnerung. Plötzlich stieß NN mich mit der Faust vor die Brust, ich fiel rücklings über zu Boden, sprang dann sofort wieder auf und schlug ihm mit der Faust unter die Nase. Soweit ich mich entsinne, blutete die Nase. Darauf NN: "Dat wüll wi di bistriken, da schast du lange an denken!" Ich griff nach einem Stiel, der an meinem Hause stand, und sagte: "Nu aber sufurts herunter van min Grundstücke, sonst passiert was anderes!", und zeigte den Axtstiel. Damit entfernte sich NN.

Der 9. und der 10. November 1938 sind die Tage, an denen organisierte Schlägertrupps überall in Deutschland jüdische Geschäfte, Gotteshäuser und andere Einrichtungen in Brand setzten, an denen Tausende Jüdinnen und Juden misshandelt, verhaftet oder getötet wurden. Die Reichsprogromnacht war das offizielle Signal zum größten Völkermord in der Geschichte.

Wie Wilhelm Köster stand eine Mehrheit der Lemförder Bevölkerung dem Progrom und vor allem den Zerstörungen ablehnend gegenüber. Nicht alle beteiligten sich aktiv, aber auch niemand half seinen jüdischen Nachbarn. Die Verantwortung für die Schuld bleibt.

Nach dem Verkauf des Hauses wurde die Synagoge zu Wohnzwecken umgebaut, was den Betsaal weitgehend veränderte. Dennoch ist die Lemförder Synagoge die baulich am besten erhaltene in der Region. Die zukünftige Nutzung des denkmalgeschützten Bauwerks ist derzeit offen.