Mai 28, 2023

Ein Ort des Grauens und Schreckens

Dort, wo die Straßen Hauptstraße, Mühlenweg und Auf den Bülten ein Dreieck bilden, wo sich heute ein brachliegendes Gelände erstreckt, liegt ein Ort des Gruselns. Dies beweist die Kurhannoversche Landesaufnahme, ein Kartenwerk von 165 Blättern, das durch die Offiziere Du Plat und Hogrewe des Hannoverschen Ingenieurkorps zwischen 1764 und 1784 im Maßstab 1:21.333 aufgenommen wurde. Es zeigt exakt an dieser Stelle ein Areal mit stilisiertem Galgen, zwei Pfählen und einem kleinen Hügel.

Die Kurhannoversche Landesaufnahme zeigt den historischen Hinrichtungsplatz in Lemförde

"Da müsste es doch bestimmt ein Dokument zu geben", dachte ich mir und fing mit der Spurensuche an, um das, was auf der Karte zu lesen ist, in die Geschichte einzuordnen. Doch das Auffinden von Hinweisen in den alten Dokumenten des Lemförder Magistrats und des Amts Lemförde erwies sich als schwierig, da nur wenige verwertbare Akten aus der frühen Neuzeit erhalten geblieben sind. Ich stellte mir zuerst die Frage: Wer war für die Überführung und Bestrafung der Täter zuständig? In welchem Archiv muss ich meine Recherchen starten?

Nach einem Weistum über die Fleckenrechte aus dem Jahre 1611 lag in den Händen des Lemförder Magistrats die niedere Gerichtsbarkeit. Sie erstreckte sich auf Vergehen innerhalb der Stadtmauern und der Feldmark: wirtschaftsrechtliche Streitigkeiten, Schuldensachen, Besiegelung von Kauf- und Eheverträgen, Delikte wie geringfügiger Diebstahl, Ruhestörung, Unsittlichkeit, Streitsucht, Verleumdung, Beleidigung, Unzucht, Kuppelei, Maß- oder Gewichtsbetrug konnten mit der Prangerstrafe geahndet werden. Der Pranger, Kaak oder Schandpfahl stand auf dem Platz vor dem Rathaus an der heutigen Kochstraße, deren Name sich von Kaak ableitet. Streitigkeiten und Schlägereien wurden vom Magistrat nur abgeurteilt und abgestraft, soweit die Wunden nageltief und gliedlang waren. Gingen die Verletzungen über dieses Maß hinaus, musste die Rechtssache an die Obrigkeit abgetreten werden. Die Gerichtsstätte vor dem Flecken lag demnach im Zuständigkeitsbereich des Landesherrn.

Die Spurensuche führte mich daher ins Niedersächsische Landesarchiv Hannover. In einem Zeugenverhör aus dem Jahre 1575 über die Jurisdiktionsbefugnisse der Diepholzer Grafen über das Dorf Stemshorn entdeckte ich erste Hinweise. Der Lemförder Drost Nickel Scherling hatte die Ehefrau des Hartke Mönnich aus Stemshorn ihres Zaubers wegen vor Lemförde verbrennen und eine andere Frau aus Stemshorn wegen einer nicht näher beschriebenen Straftat durch das Schwert richten und aufs Rad legen lassen. Die Wissenschaft von dieser Straftat hatte dazu geführt, dass der herrschaftliche Windmüller zu Stemshorn enthauptet und seine Ehefrau des Landes verwiesen wurde. Verbrannt wurden auch die Vortmeyersche und ein Eigenhöriger des Johann Bordewisch, wie er mit seiner Stieftochter Unzucht getrieben haben sollte. Auch ein Rabbe aus Stemshorn sollte mit dem Schwert gerichtet worden sein. Alle diese Fälle bezogen sich ausschließlich auf das Dorf Stemshorn, sodass davon auszugehen ist, dass auch die übrigen Ortschaften des Amts Lemförde vergleichbare Bestrafungen aufzuweisen haben.

Die Angabe, dass die Hinrichtungen "vor Lemförde" stattgefunden haben, ist als Hinweis zu verstehen, dass die auf der Karte verzeichnete Hinrichtungsstätte bereits vor 1675 genutzt wurde. Der Standort des Galgens war für derartige Hinrichtungsanlagen typisch: Er befand sich an der Grenze des Gerichtsbezirks weitab der Bebauung, aber möglichst weit sichtbar in der Nähe einer wichtigen Durchgangsstraße. Wer sich als Fremder einem Herrschaftsgebiet näherte, musste auf seinem Weg erst einmal die Hinrichtungsstätte passieren. Eine deutliche Warnung, sich anständig zu benehmen.

Meine Fragen waren aber noch längst nicht geklärt. Mich interessierte, welche Vergehen bestraft wurden, und fand heraus, dass die Richter mit dem Tod zahlreiche Delikte ahndeten: Mord, zumeist auch Totschlag, Brandstiftung, Landesverrat und Majestätsbeleidigung, Bigamie, Unzucht und Ketzerei. Gleichzeitig warf die Abbildung von Galgen, Pfählen und erhöhtem runden Platz die Frage auf: Welche Unterschiede gab es bei den Hinrichtungen?

Die häufigste Todesstrafe war das Aufhängen am Galgen, bis der Tod eintrat. Die Aufhängevorrichtung, die bis zu vier Meter hoch war, bot Platz für mehrere Gehenkte. Nicht selten verblieb der Delinquent so lange am Galgen hängen, bis einzelne Leichenteile durch Verwesung von selbst herunterfielen. Wer wie Rabbe aus Stemshorn seinen Kopf auf den Richtblock legte, fand dagegen relativ schnell den Tod. Was aber hatten die Pfähle zu bedeuten? Zwar wurden die abgeschlagenen Köpfe mitunter zur Warnung auf Stangen präsentiert, doch spielten die Pfähle bei den nach damaligem Verständnis schimpflichsten Verbrechen eine Rolle, die die Rechtsprechung mit der wohl grausamsten Hinrichtungsart ahndete: dem Rädern.

https://commons.wikimedia.org/wiki/File:R%C3%A4dern_des_Hans_Spiess.jpg

Beim Rädern warfen die Scharfrichterknechte den Verurteilten auf den Boden und banden seine Gliedmaßen gestreckt an Pflöcke. Unter Arme und Beine legte der Scharfrichter anschließend Hölzer. Sodann ließ er mehrmals ein schweres eisenbeschlagenes Speichenrad auf den Unglücklichen fallen, das seine Knochen zerschlug. Wer auf einen gnädigen Richter traf, durfte auf eine Räderung "von oben" hoffen. Dabei zielten die ersten Schläge des Rades gegen Kopf oder Hals. Den Rest der Gewaltorgie bekam der Verurteilte dann nicht mehr mit. Es gab jedoch auch das Rädern "von unten". Schlag für Schlag nahm sich der Scharfrichter die einzelnen Extremitäten vor. War der Körper zermalmt, wurde er durch die Speichen "auf das Rad geflochten" und dann dieses auf einem Pfahl aufgerichtet, den Vögeln zum Fraß. Manch einer war zu diesem Zeitpunkt noch lebendig und bei Bewusstsein.

Bleibt noch die Frage nach der Bedeutung des Hügels. Auf ihm könnte die Frau des Hartke Mönnich gestanden haben, als sie wegen Zauberei als Hexe den Tod durch das Feuer fand.

Pforthaus mit Amtsgefängnis in Lemförde

Ich stellte mir die Frage: Wie muss ich mir den Weg von der Gefangennahme bis zur Hinrichtung vorstellen? Im Niedersächsischen Landesarchiv stieß ich auf die Akte des Ermittlungsverfahrens gegen Horstmann und andere in Lemförde, in der der Ablauf in den Jahren 1734-1738 akribisch festgehalten ist. Nach dem tagelangen Transkribieren der Dokumente begann ich mit der inhaltlichen Erschließung. Nach und nach nahm der Fall immer mehr Gestalt an. Was war geschehen?

1724 hatte die 16-jährige Anna Elisabeth Götker gegen ihren Willen den 26-jährigen Lembrucher Hofbesitzer Friederich Behrend Horstmann geheiratet. Zur Frau herangewachsen, verliebte sie sich in Andreas Busch aus Lembruch und trieb mit ihm Unzucht. Im Mai 1732 starb plötzlich ihr Ehemann am Wundbrand, doch gestand zwei Jahre später dessen Magd, ihn im Auftrag seiner Ehefrau und ihres Liebhabers vergiftet zu haben. Andreas Busch floh, konnte aber bald darauf gefasst werden. Die Beschuldigten wurden im Lemförder Amtsgefängnis inhaftiert.

Erste Vernehmungen setzten ein, es kam jedoch zu keinem Schuldeingeständnis. 1737 wurde daher die "scharfe Befragung" des Andreas Busch angeordnet. Er wurde entkleidet und mit verbundenen Augen auf die Bank gesetzt. Nun begann die Folterung unter Einsatz von Daumenschrauben, Armschnüren, Peitsche und Beinschrauben. Nach 40 Minuten Folterung bekannte Busch schließlich unter heftigen Schmerzen, gemeinsam mit Anna Elisabeth Götker mit Hilfe der Magd seinen Nebenbühler vergiftet zu haben. Nachdem beide durch den Lemförder Pastor Bode auf den Tod vorbereitet worden waren, wurde am 20. Juni 1738 das peinliche Halsgerichtsverfahren gegen sie eröffnet. Nachdem sie öffentlich ihre Schuld gestanden hatten, wurde das Urteil verlesen, das mit dem symbolischen Brechen des Stabes rechtskräftig wurde. Der Richter überließ die Verurteilten dem Scharfrichter.

Die Hinrichtung wurde als Spektakel der Abschreckung inszeniert, das ein großes Publikum anzog. In Begleitung der in Lemförde ansässigen Garnison wurden die Verurteilten zur Gerichtsstätte gebracht. Sie wurden auf eine hölzerne Plattform geführt, nacheinander auf den Stuhl gesetzt und vom Scharfrichter mit je einem Hieb enthauptet. Danach wurden ihre Körper auf einer Tragbahre zu den aufgerichteten Pfählen transportiert und auf die Räder geflochten. Die abgeschlagenen Köpfe heftete man auf die Pfähle.

Wie lange die Hingerichteten dort zur Abschreckung zur Schau gestellt wurden, ist nicht überliefert. Ein ehrenvoller Platz auf dem Friedhof am Espohl dürfte ihnen versagt geblieben sein. Es ist anzunehmen, dass sie im unmittelbaren Umfeld des Hinrichtungsplatzes in ungeweihter Erde verscharrt wurden.

Was wird den Delinquenten auf dem Weg zu ihrer Hinrichtung wohl durch den Kopf gegangen sein? Wie müssen sich die Delinquenten beim Anblick der Pfähle und Räder wohl gefühlt haben? Was war ihr Geständnis wert, das unter der Folter erzwungen wurde? Hatten sie die Tat wirklich begangen? Wir wissen es nicht. Diese drakonische Art der Urteilsfindung und Bestrafung blieb in Lemförde bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts gebräuchlich. Erst mit den Ideen der Aufklärung und den Vorstellungen allgemeiner Menschen- und Bürgerrechte änderte sich das Denken und damit auch die Praxis unserer Strafjustiz. Der moderner Rechtstaat versucht, den Tätern ihre Würde zu lassen und ihnen eine Chance auf Resozialisierung zu geben.