Dezember 30, 2022

„Moorhasen“

Wo die Sägemühle rattert still ihr Lied,
wo die Wolkendecke über Linden zieht,
wo die Frösche quaken, uns als Abschiedsgruß,
do is mine Heimat, do bin ick to Hus.

Stille liegt das Moor ja weit und breit,
und es herrscht dort Friede, Freud und Fröhlichkeit,
um es zu verstehen, man dort wohnen muss,
denn do is mine Heimat, do bin ick to Hus.

Moorhasen hat man uns im Ort genannt,
unter diesem Namen sind wir längst bekannt,
und wir wollen’s bleiben, es bringt uns nie Verdruss,
denn et is mine Heimat, do bin ick to Hus.

Diesen Text fand ich, versehen mit dem Titel "Moorhasen-Lied", auf einem vergilbten Stück Papier. Er stellt eine Umdichtung eines Textes dar, der 1907 von Martha Müller-Grählert unter der Überschrift "Mine Heimat" in den "Meggendorfer Blättern" veröffentlicht und 1910 von Simon Krannig zu einem Volkslied vertont wurde. Wir kennen es heute besser unter dem Songtext "Wo die Nordseewellen spülen an den Strand" von Lolita.

Wagen der "Moorhasen" zu einer Maifeier in der NS-Zeit

Dabei lag eine Fotografie, die einem Vermerk zufolge bei einer Maifeier aufgenommen wurde. Sie zeigt Kinder auf einem reich geschmückten Ackerwagen, der inmitten eines Festumzugs durch die Hageweder Straße rollt. Am Wagenaufbau prangt der Schriftzug "Moorhasen".

Wagen mit Hakenkreut im Festumzug einer Maifeier in der NS-Zeit

Ähnliche Fotos, allerdings ohne Schriftzug und mit einem Hakenkreuz versehen, kannte ich bereits aus der NS-Zeit, als die Nationalsozialisten den 1. Mai als Tag für die "Gemeinschaftspflege" vereinnahmten. Wie diese Maifeiern abliefen, ist einer Notiz der Diepholzer Kreiszeitung vom 27. April 1934 zu entnehmen: In der Nacht zum 1. Mai wurde der Maibaum feierlich eingeholt. Er hatte an der Spitze einen bunten Lebenskranz. Handwerkszeug, bunte Bänder und Maigrün schmückten den Baum, der seiner Äste und seiner Krone beraubt war. In der Schule fand morgens eine Feier statt, auf der Lehrer und politische Vertreter kurze Reden hielten. Anschließend wurde eine Rundfunkübertragung aus Berlin eingespielt. In der Kirche wurde Gottesdienst abgehalten. Gegen 13.30 Uhr setzte sich, ausgehend von der Doktorstraße, mit Begleitung von Abordnungen der SA, der SS, der HJ und der Diepholzer Musikkapelle der Festumzug in Bewegung. Vor der Kapelle marschierten die Herolde, dahinter die Schulen in der Reihenfolge Brockum, Lemförde, Marl, Hüde und Stemshorn. Alle "Volksgenossen" waren zur Teilnahme aufgerufen und reihten sich nun ein, wobei sich die Quernheimer hinter den Brockumern einordneten. Der Festzug, zu dem neun festlich geschmückte Wagen – jede Gemeinde hatte einen oder zwei zu stellen - erschienen waren, endete am Hannoverschen Berghaus. Dort fanden ein Platzkonzert, eine Rundfunkübertragung mit der Rede des Führers, Spiele, Tänze, Gesangsvorträge der Gesangvereine Brockum, Marl und Lemförde, und ein Preisschießen statt. Die Maifeier klang mit dem Tanz in der Festhalle und im Festzelt aus.

Wagen der Ortsbauerschaft Quernheim beim Festumzug einer Maifeier in der NS-Zeit

Doch wer waren die „Moorhasen“, die sich so mit ihrem Ortsteil identifizierten, dass sie in geschmückten Wagen in festlichen Umzügen auftraten und ihren eigenen Song kreierten?

Der Begriff „Moorhasen“ wird in Verbindung gebracht mit Häusern östlich der Hauptstraße. Aneinandergereiht mit einst fast identischen Grundstücksgrößen, liegen sie in der Mehrzahl zwischen dem Erlenweg und dem Weidendamm, was auf einen gemeinsamen Entstehungszeitraum hindeutet.

Betrachten wir zunächst den Begriff. Das Bestimmungswort „Moor“ verweist auf die Flur, auf der diese Häuser errichtet wurden. Sie trug früher den Namen „Bürgermoor“. Woher aber rührt das Grundwort „hase“, das hier im Plural Verwendung findet? Jeder denkt zunächst an ein Säugetier mit langen Ohren aus der Gattung Lepus, das diesen Namen trägt, dem die Bedeutung „der Graue“ zu Grunde liegt. Gab es früher auf dieser Flur außergewöhnlich viele Hasen? Waren es nur alte, grauhaarige Menschen, die sich hier niederließen? Unwahrscheinlich, aber warum wurden sie dann als „Hasen“ bezeichnet? Werfen wir einen Blick auf die Symbolik des Wortes. Der Hase wird häufig mit Schnelligkeit, Ausdauer, Flucht, aber auch mit Wiedergeburt und Auferstehung in Verbindung gebracht. Hatten diese Siedler etwa ein gemeinsames Erlebnis, das sie dazu getrieben hat, sich auf dieser Flur anzubauen?

Von der Neugier getrieben, begab ich mich auf Spurensuche. Zunächst fiel mir ins Auge, das die meisten Häuser früher Hausnummern trugen, die nahe beieinander lagen: 19, 20. 24, 25, 26. Als ich daraufhin Im Samtgemeindearchiv eine alte Flurkarte aus den 1870er Jahren betrachtete, auf der die Ortslage Lemförde mit Angabe der Hausnummern verzeichnet war, fiel mir auf, dass exakt diese Nummern normalerweise an der Pastorenstraße zu erwarten gewesen wären, wo sie jedoch fehlten. Was mag diese Hausbesitzer veranlasst haben, ihre Häuser in der Pastorenstraße abzureißen, um sich im Bürgermoor neu anzusiedeln? Im Niedersächsischen Landesarchiv in Hannover fand ich schließlich den Grund für ihre Flucht vom alten Standort.

Die Siedlung der „Moorhasen“ im Bürgermoor auf einer Flurkarte

Am 15.10.1826 um 21.00 Uhr entstand im Stall des Kaufmanns Rodemann an der Kochstraße ein Feuer, wodurch das Sparrwerk des Stalles verzehrt wurde. Der Wind trieb die Flammen in Richtung Nordost, wo an der Pastorenstraße fünf Bürgerhäuser vom Feuer erfasst wurden und vollständig niederbrannten bis auf eines, von dem die unteren Wände gerettet werden konnten. Menschen kamen dabei nicht ums Leben. Neun Familien und zwei einzelne Personen verloren ihr Obdach. Mit Ausnahme einer Familie traf das Schicksal ausnahmslos Familien, die sich bereits in äußerst schlechten Vermögensumständen befanden. Zwar konnte der größte Teil ihres Mobiliars gerettet werden, doch die eingelagerten Früchte gingen verloren. Für ein einstweiliges Unterkommen wurde gesorgt, ob ihnen aber auch im Winter eine Wohnung verschafft werden konnte, war nicht sicher. Auch stellte sich heraus, dass die meisten Häuser unterversichert waren. Zumindest war der Betrag der Brandkassengelder gering.

Siedlungshaus der „Moorhasen“ im Bürgermoor

Bald stand die Frage des Wiederaufbaus an. Der Lemförder Magistrat sperrte sich wegen der Enge des Raumes und der damit verbundenen Feuergefahr gegen das Vorhaben, die Häuser auf ihrem alten Platz wieder aufzurichten und stellte außerhalb des Ortes im Bürgermoor Bauplätze zur Verfügung, wo von 1826-1829 der Wiederaufbau stattfand. Auf der Brandstelle in der Pastorenstraße wurde später das neue Pfarrhaus erstellt, das vor dem Brand ganz nah an einem Bürgerhaus stand und nach dem Brand vorgerückt wurde.

Die Untersuchung des Brandes ergab zunächst keine Anzeichen für eine Nachlässigkeit oder Bosheit. Nachdem aber am 20. und 26. Oktober 1826 im Flecken weitere Brände ausbrachen, wurde eine Untersuchung gegen die Gebrüder Johann Friedrich und Hermann Friedrich Ludolph Hafer aus Lemförde eingeleitet. Sie wurden des Diebstahls und der Brandstiftung überführt und verurteilt. Hermann Friedrich Ludolph Hafer erhielt 20 Jahre Karrenstrafe in Stade, wo er 1845 noch einsaß. Johann Friedrich Hafer jedoch wurde zum Tode durch das Schwert verurteilt. Er war der letzte Deliquent, der in Lemförde hingerichtet wurde.

Gemeinsame Erlebnisse schweißen ausgesiedelte Menschen, die bereits vorher in einer Nachbarschaft miteinander gelebt haben, in besonderem Maße zusammen. So ist es kein Wunder, dass sie als „Moorhasen“ einen besonderen Wert auf ihre Herkunft, ihre Identität gelegt haben.