Februar 11, 2023

Rosen, Tulpen, Nelken, alle Blumen welken

Wie habe ich mich als Lehrer davor gedrückt die "Freundebücher" aufzuschlagen, die mir meine jungen Schülerinnen erwartungsvoll überreichten in der Hoffnung, mehr über mich zu erfahren. Die Seite, die ich beschreiben sollte, ähnelte einem steckbriefmäßig aufbereiteten Fragenkatalog. Vor- und Nachname, Wohnort und Datum waren ja schnell eingetragen, aber spätestens als ich aufgefordert wurde, meine Hobbys, meine Lieblingsspeise, -filme und -bücher einzutragen, war ich genervt. Ich ging dazu über, in jedes "Freundebuch" den gleichen "Senf" einzutragen. Meine Identität blieb dabei meines Erachtens ein wenig auf der Strecke.

Meine Gedanken schweifen zurück in meine eigene Schulzeit, als meine Schwester und ihre Freundinnen mir mit ähnlichen Erwartungen ihr Poesiealbum in die Hand drückten und von mir einen netten Spruch in Schönschrift, ein eingeklebtes Rosen- oder Puttenbild oder vielleicht sogar ein selbst gemaltes Herz mit dem Zusatz "Vergißmeinnicht" oder "In Liebe – Dein Ludger" erwarteten. Eigentlich fand ich zu der Zeit alle Mädchen doof, und nun sollte ich ihnen auch noch die gegenseitige Freundschaft und Zuneigung bekunden. Also zitierte ich widerwillig irgendeinen geistreichen Spruch eines bekannten Schriftstellers, "mopste" meiner Schwester ein kunstvolles Ornament aus ihrer Schatulle und klebte es ins Poesiealbum. Je unpersönlicher es aussah, umso besser gefiel es mir.

Schätzen gelernt habe ich diese Büchlein erst, als mir im Samtgemeindearchiv Alben in die Hände fielen, die fast 200 Jahre alt waren. Ich begann im Internet zu recherchieren und erfuhr, dass sie auf die Stamm- oder Wappenbücher des Adels zurückgehen, die, versehen mit den Lebensdaten und geschmückt mit den gemalten Wappen der Familien, die Zugehörigkeit der Besitzer zur Oberschicht dokumentierten. In der Renaissance wurden den Familiendaten nun Glück- und Segenswünsche von Verwandten und Freunden sowie Zitate aus der Bibel hinzugefügt und mit gezeichneten Bildern illustriert. Ich bin 16. Jahrhundert kam das ,,album amicorum" (Album der Freunde) in Umlauf. Es war besonders unter Studenten beliebt, die sich an Sprüchen und Segenswünschen ihrer Kommilitonen und Professoren erfreuten und diese Stammbücher sogar als eine Art Empfehlungsschreiben vorlegten, wenn sie sich bei anderen Universitäten oder bei Bewerbungsgesprächen vorstellten. Eine Blütezeit erlebte das Erinnerungsbüchlein zwischen 1790 und 1850, als sich besonders Frauen seiner mit fast inniger Zuneigung annahmen.

Erinnerungsblatt aus einer Schatulle aus dem Hause der Lemförder Apothekerfamilie Weber 1835

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bestanden die Poesiealben meistens aus Erinnerungsblättern, die in vorgefertigten Schatullen gesammelt wurden. Verzierungen hatten noch Seltenheitswert und zeigten kleine Zeichnungen, Malereien und Scherenschnitte. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dominierte das gebundene Buch. Das Schmücken der Alben wurde nun in die "eigenen Hände" genommen. Gepresste Blumen, Stickereien und Seidenbänder kamen hinzu. Zur Modeerscheinung wurden Poesiealben in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in der sie sich massenhaft verbreiteten.

Erinnerungsblatt aus einer Schatulle aus dem Hause der Lemförder Apothekerfamilie Weber 1842

Ich schlage ein altes Album auf, blättere die abgegriffenen, leicht vergilbten Seiten um und entziffere die altdeutsche Schrift. Bekannte Persönlichkeiten aus der Region finden sich im Album wieder. So schrieb 1920 der spätere Bürgermeister und Regionalgeschichtsforscher Willy Moormeyer aus Stemshorn einer Mitschülerin: "Es halte stets die Hand des Herrn, jeden Kummer von dir fern". Neben christlichen Segenswünschen dominieren Verse wie der Spruch von Claus Rieckhoff aus Lemförde vom 19. März 1918: "Nicht wie Rosen, nicht wie Nelken, die da blühen und welken, sondern wie das Immergrün, so soll unsere Freundschaft blühn". Und vielleicht verbarg sich ja auch ein kleines Liebesbekenntnis hinter dem Spruch, den 1918 Rudolf Buck seiner Mitschülerin offenbarte: "O, siehst du einst in späten Zeiten, dies Blättchen an, so denk an mich. Mein wärmster Wunsch soll dich begleiten, so lang in Liebe, lieb ich dich".

Auch wenn ich mit den schmalzigen Versen wenig anfangen kann, so sehe ich heute die Poesiealben mit anderen Augen. Die persönlichen Widmungen der Eltern, Großeltern und Verwandten rufen Erinnerungen wach an liebe Menschen, die die Besitzerin des Albums auf ihrem Lebensweg begleitet haben, und Freundinnen und Freunde, Mitschülerinnen und Mitschüler, Lehrerinnen und Lehrer tauchen auf Grund ihres Eintrags vor den geistigen Augen auf und lassen die Erinnerung an gemeinsame Erlebnisse wieder lebendig werden.