Mai 28, 2023

Taugenichtse und Verbrecher – Sittenbild einer Lemförder Familie im frühen 19. Jh.

1826 versetzte eine Serie von Brandstiftungen die Bürger des Flecken Lemförde in Angst und Schrecken. Am 15. Oktober 1826 um 21.00 Uhr entstand im Stall des Kaufmanns Rodemann an der Kochstraße ein Feuer, wodurch das Sparrwerk des Stalles verzehrt wurde. Der Wind trieb die Flammen in Richtung Nordost, wo an der Pastorenstraße fünf Bürgerhäuser vom Feuer erfasst wurden und vollständig niederbrannten bis auf eines, von dem die unteren Wände gerettet werden konnten. Menschen kamen dabei nicht ums Leben.

Bin 20. November 1826 um 19.30 Uhr brach im Flecken erneut ein Feuer aus, bei dem der obere Teil des Stallgebäudes des Bürgers Mönch-Meyer von den Flammen verzehrt wurde.

Nur sechs Tage später ertönte gegen 19.00 Uhr erneut das Feuerhorn. Auf dem Hof des Freisassen Cordemann in der Doktorstraße stand das Stallgebäude in Flammen, auf das bewohnte Nebengebäude und die Ölmühle übergriffen und die Gebäude in Schutt und Asche legten. Hatte die Untersuchung des Brandes vom 15. Oktober zunächst keine Anzeichen von Brandstiftung oder Nachlässigkeit ergeben, so kam spätestens nach dem Feuer am 26. November das Gerücht auf, ein Brandstifter würde sein böses Spiel treiben. Auf die Frage, wer hinter den Anschlägen stecken könne, hatte die öffentliche Meinung auch schnell eine verdächtige Familie ausgemacht: die Häuslingsfamilie Weber, die im Flecken in einem schlechten Ruf stand. Polizeiliche Untersuchungen wurden eingeleitet und es kam zu einem Prozess, an dessen Ende Freiheitsstrafen und eine Hinrichtung mit dem Schwert standen.

Und dann erwachen sie in mir: Die Miss Marple der geschlossenen Akten, der Sherlock Holmes der stummen Zeugen, der Hercule Poirot der verstaubten Hirnzellen. Ich beginne vor Ort mit der Spurensuche und schon bald bildet jedes gefundene Puzzleteil ein eigenes, neues kniffliges Rätsel, was gelöst werden will. Immer mehr Personen und Informationsfetzen tauchen auf, ständig kann ich Fakten ergänzen und so nimmt der Fall mehr und mehr Gestalt an, auch wenn ich mir bewusst bin, dass ich, anders als Miss Marple, Sherlock Holmes oder Hercule Poirot, den Fall wohl nie vollständig klären können. Nicht alles wurde aufgeschrieben und nicht alles, was aufgeschrieben wurde, hat die Jahrhunderte überdauert. Doch lassen wir die Quellen sprechen.

Christoph Weber hatte das Handwerk eines Schusters erlernt, das Bürgerhaus der Witwe Dröge in der Kochstraße erworben und Ende der 1790er Jahre zusammen mit seiner Ehefrau Magdalena Reese eine Familie gegründet. November 1793 hatte sie ein erster schwerer Schicksalsschlag ereilt. Ihr ältester Sohn Johann Friedrich Heinrich war im Alter von fast drei Jahren verstorben.

Brand des Hauses Hafer, Kochstraße 41 (sp. Gastwirtschaft Sander) 1931

Das Leben des Christoph Weber geriet aus dem Tritt, Er vernachlässigte die Erziehung seiner Kinder und wohl aus Liebe zur Gemächlichkeit das erlernte Schusterhandwerk. Hinzu kam eine merkliche Neigung zum Wohlleben, und so blieb es nicht aus, dass er sein Bürgerhaus Nr. 41 durchbrachte und es schuldenhalber an den Schuster Gerhard Friedrich Sander verkaufen musste. Er wurde mit Gartendiebstählen in Verbindung gebracht, auch wenn diese ihm nicht nachgewiesen werden konnten, und galt schon bald wegen seines verderblichen Charakters als gefürchteter Mann. Seine Ehefrau dagegen wurde als eine geachtete Person angesehen, der es jedoch an einer strengen Hand fehlte und die ihre Kinder verzärtelte,

1821 dann ein weiterer Schicksalsschlag: im Alter von 19 Jahren verstarb ihr Sohn Hermann Friedrich Philipp, sodass die Familie 1826 mittlerweile mit drei Söhnen und drei Töchtern als Häuslinge im Flecken lebten, von denen zwei Söhne bereits verheiratet waren und das elterliche Haus verlassen hatten.

Der Sohn Johann Hermann Hinrich (* 1792) hatte sich um 1815 mit Anne Gardelmann verehelicht, die ihm zwei Kinder gebar, Nach einem Aufenthalt in Bremen, wo er in den Verdacht der Unredlichkeit geraten war, war er in seinen Heimatort zurückgekehrt und hatte sich dem Magistrat als Berghirte angedient. Allerdings war sein Verdienst sehr gering, sodass er seine Familie nur notdürftig ernähren konnte.

Der Sohn Hermann Friedrich Rudolph (* 1794) hatte das Drechslerhandwerk erlernt, 1820 Sophie Knese (* 1789), geheiratet und ebenfalls einen eigenen Hausstand gebildet. Seine Ehefrau, eine Tochter des Corporals Friedrich Hinrich Knese und der Ilse Dorothee Harmsen, war in Lemförde in der Eselstraße aufgewachsen und hatte dort die Schule besucht. Ihr Schulbesuch war nicht der fleißigste gewesen und sie neigte zur Unordentlichkeit, Bequemlichkeit und Kleiderpracht, Nach dem Schulbesuch war sie in Levern in Dienst getreten, hatte jedoch durch eine Feuersbrunst im Hause ihres Dienstherrn fast ihre ganze Habe verloren und war nach kurzer Dienstzeit nach Lemförde zurückgekehrt, um zu heiraten. Aus einer unehelichen Beziehung hatte sie einen kleinen Sohn mit in die Ehe gebracht. Zur Erziehung ihrer Kinder erwies sie sich wenig geeignet und in ihrer Ehe herrschte nicht selten Unfrieden.

Johann Friedrich (* 1806), der jüngste Sohn des Christoph Hafer, wurde fristgemäß in die Lemförder Schule eingeschult. Ausgestattet mit einem gesunden Menschenverstand, besuchte er sie regelmäßig. Bei seiner Konfirmation Ostern 1821 konnte er sogar vorzügliche Religionskenntnisse nachweisen. In den Jahren zuvor erwies er sich zwar noch nicht als Bösewicht, offenbarte jedoch bereits einen Charakter, der durch Falschheit, Leichtsinn, Nachlässigkeit und mangelndes Feingefühl gekennzeichnet war. Vor allem zeichnete ihn bei allem, was große Anstrengung erforderte, eine gewisse Trägheit aus.

Nach der Schule begab er sich nach Bremen, um das Schusterhandwerk zu erlernen, brach jedoch früh seine Ausbildung ab und kehrte in seinen Heimatort zurück. Hier lebte er von der Arbeit als Tagelöhner und hütete bisweilen die Lemförde Kühe. Für eine ernstere Beschäftigung schien er keinen Sinn zu haben. Ohne eine Berufsausbildung, aber mit dem Hang zum Wohlleben, verbrachte er viel Zeit mit seinem älteren Bruder, dem Drechsler Hafer, der im Verdacht eines schlechten Menschen stand. Er wurde zum Einzelgänger, der von den Altersgenossen gemieden wurde und oft offen seine Unzufriedenheit mit seinem Geburtsort Lemförde äußerte. Im Herbst 1826 begab er sich nach Hannover, um sich zum Militärdienst einzuschreiben, wurde jedoch nicht genommen und kehrte kurz vor dem ersten Brand nach Lemförde zurück.

Als nach dem dritten Brande in Folge die drei Gebrüder Hafer in Verdacht gerieten, diese in böswilliger Absicht gelegt zu haben, wurden sie inhaftiert und es wurde eine Untersuchung gegen sie wegen Brandstiftung eingeleitet. Leider konnte ich wegen der nicht überlieferten Prozessunterlagen nicht ermitteln, in welchem Maße sie der Tat für schuldig befunden wurden.

Heinrich, der älteste der drei Brüder, der, wie es damals hieß, Ort und Stunde der Feuersbrunst vorhergesehen haben wollte, wurde nach der Untersuchung aus dem Gefängnis entlassen. Er zeigte, wohl geprägt durch seine jüngsten schmerzlichen Erfahrungen, fortan ein stärkeres Interesse an der Erziehung und Schulbildung seiner Kinder, besuchte regelmäßiger den Gottesdienst und nutzte als Tagelöhner jede Gelegenheit zum Verdienst.

Johann Friedrich, der jüngste der Brüder, scheint zur Überraschung der Lemförder Bevölkerung, die seinen Bruder Hermann Friedrich Rudolph in starkem Verdacht hatte, die dreimalige Brandstiftung gestanden zu haben. Gegen ihn wurde die Todesstrafe verhängt, die durch die Hinrichtung mit dem Schwert vollstreckt wurde.

Haus Hafer, Eselstraße 66 (2. v. l.; sp. Frisör Jahrmacht)

Hermann Friedrich Rudolph, der mittlere der Brüder, wurde wohl wegen Beihilfe zur Brandstiftung und Diebstahl zu einer Karrenstrafe von 20 Jahren verurteilen. Während er seine Strafe in der Strafanstalt Hameln absaß, führte seine Ehefrau den Haushalt in dem von ihr ererbten Bürgerhaus Nr. 66 in der Eselstraße weiter und übernahm die alleinige Erziehung ihrer beiden Töchter Regine Margarethe Charlotte (* 1822) und Dorothee Juliane Auguste (* 1826). Allerdings war es keine Erziehung zum Guten. Ihre Kinder hielt die Mutter vom Schulbesuch ab und zwang sie mit Androhung von Schlägen zu allerhand Feld- und Gartendiebstählen, sodass diese auf Ansuchen des Pastors der Mutter vom Amt Lemförde entzogen und bis zu ihrer Konfirmation auf Kosten des Fleckens Lemförde bei Bauern im Nachbardorf Brockum zur Erziehung untergebracht wurden. Dem verderblichen Einfluss ihrer pflichtvergessenen Mutter entzogen, hörten die Verfehlungen der beiden Töchter vorübergehend auf, bis sie nach ihrer Konfirmation ins Elternhaus zurückkehrten und von nun an einen anstößigen Lebenswandel führten.

Mit ihren Nachbarn lebte die Ehefrau Hafer in ständigem Streit, da sie als eine zwar schlaue, aber überaus hinterhältige, heuchlerische, betrügerische und habgierige Frau galt, die von jedem im Ort gemieden wurde, der auf seinen Ruf achtete. Es ging das Gerücht, sie habe ihr Haus aus Gewinnsucht zu einem öffentlichen Hurenhaus gemacht.

Nach der Verbüßung seiner 20-jährigen Karrenzeit kehrte der Kunstdrechsler Hermann Friedrich Rudolph Hafer als gebrochener Mann nach Lemförde zurück, der nicht mehr im Stande war, sich von seiner Hände Arbeit zu ernähren. Seine Ehefrau sträubte sich, ihren kränklichen Mann wieder aufzunehmen. da sie ihn eher als Last, denn als eine Stütze in ihrem Haushalt sah, konnte sich gegen die Anordnung der Obrigkeit jedoch nicht durchsetzen. Ihr Ehemann bemühte sich zwar, ihr im Haushalt zur Seite zu stehen, dennoch kam es immer wieder zu heftigen Streitereien um seinen Beitrag zum Unterhalt. Er begann, in den Häusern um milde Gaben zu bitten, doch seine Frau machte ihm klar, dass sich ihre Beziehung erst dann wieder bessern würde, wenn er gestohlene Sachen ins Haus tragen würde. So war es kein Wunder, dass er 1849 wegen zweifachen Diebstahls erneut in Untersuchungshaft kam. Mit welchem Strafmaß die Untersuchung endete, war nicht zu ermitteln.

Pastor Jacobi sah in ihm einen bemitleidenswerten Menschen, der ihm klagend gestanden hatte, dass er, seitdem er wieder mit seiner Ehefrau unter einem Dach leben musste, sich gefühlt hätte, als wäre er erst dann ins Zuchthaus gekommen.

1853 äußerte der Kunstdrechsler Hermann Friedrich Rudolph Hafer den Wunsch, nach Amerika auszuwandern. Die war sein letztes Lebenszeichen an seinem Heimatort.